Expedition nach Baffin Island
Von Stefan Glowacz mit Mila Hanke
Text: Stefan Glowacz mit Mila Hanke
Baffin Island – by fair means
340 Kilometer, 29 Tage, 280 Kilo Gepäck. Profikletterer und Abenteurer Stefan Glowacz durchquerte gemeinsam mit Kletterpartner Robert Jasper und Fotograf Klaus Fengler eine der abgelegendsten arktischen Regionen der Welt – nur mit Ski und Schlitten. Ihr Ziel: Eine Erstbegehung an einem Big Wall im Sam Ford Fjord. Doch genau dort warteten Drama, Enttäuschung – aber auch unverhoffte Glücksmomente. Eine Reportage über die Macht der Natur, die Schönheit des Augenblicks und die Erkenntnis: Manchmal ist tatsächlich der Weg das Ziel.
Ehrfurcht, Demut, Dankbarkeit – und eine ganz leise, pure Euphorie. Schweigend stehen wir in der eisigen Luft, während uns diese Gefühlswoge einfach überspült. Die Wolkendecke, die sich vor Kurzem noch bedrohlich über uns geschlossen hatte, reißt plötzlich auf. Als hätte sie nur auf uns gewartet. Die Strahlen der Mitternachtssonne tauchen das, was sich rund 800 Meter unter uns erstreckt, in mystisches Licht: Zwei arktische Fjorde - der eine in tieferliegende Wolken getaucht wie in Zuckerwatte, der andere eisblau glitzernd wie eine riesige surreale Schlittschuhbahn. Zudem: Gebirgszüge bis zum Horizont, die hier in aller Stille thronen wie Wächter über das Ende der Welt. Es scheint, als würden sich die Felswände mit stolz geschwellter Brust nur für uns noch imposanter die Höhe recken. Weil sie so selten Besucher haben.
Es ist 2:30 Uhr morgens als ich gemeinsam mit meinem Kletterpartner Robert Jasper und dem Fotograf Klaus Fengler auf dem „Turret“ stehe, einem etwa 800 Meter hohen Gipfel im Nordwesten von Baffin Island. Der Weg bis an diesen Punkt im kanadisch-arktischen Nirgendwo, bis hoch auf diesen Felsturm mit der eindrucksvollen Form eines Schiffsbugs – er hatte uns an unsere Grenzen gebracht, in vielerlei Hinsicht. Denn noch acht Stunden zuvor hatten mich ganz andere Gefühle überrumpelt: Enttäuschung, Frust, Wut. Ja, 100 Meter weiter unten hatte ich ein lautes „Scheiße“ in diese endlos weite Landschaft gebrüllt, die mich jetzt so friedlich stimmte. Denn in diesem Moment sah es so aus, als würde ein Steinschlag unseren Traum so kurz vor dem Ziel zunichte machen. Als wären ein Jahr Vorbereitung und die neun Tage und 170 Kilometer lange Plackerei bis hier her umsonst gewesen. Weil meine Hände – geprellt, zerschürft und geschwollen - nicht mehr in der Lage waren, das zu tun, wofür ich hier war: Klettern.
Dabei war zuvor alles ganz nach Plan gelaufen. Akribisch hatten wir diese Expedition vorbereitet. Die Fjorde an der Nordostküste von Baffin Island sind in der Extremkletter-Szene berühmt für ihre gigantischen Wände aus Granit. Bis zu 1000 Meter hoch ragen sie aus Eis und Schnee senkrecht oder überhängend gen Himmel. Doch wer sie bezwingen will, muss sie erst einmal erreichen. Die überschaubare Zahl an Kletterern, die bis heute hier her vorgedrungen ist, haben sich meistens von den einheimischen Inuit per Schneemobil oder Schiff dort absetzen und wieder abholen lassen. Mein Anspruch an ein echtes Abenteuer aber ist ein anderer: Ich will meine Kletterziele aus eigener Kraft erreichen und aus eigener Kraft zurückkehren, wie die Pioniere vergangener Zeiten. Ohne Helikopter & Co, sondern „by fair means“ - möglichst vom ersten bis zum letzten Schritt.
Um diese Expeditions-Philosophie auch in der arktischen Landschaft von Baffin Island umzusetzen, hatte ich vor genau einem Jahr eine Idee: Wir bräuchten einen Amphibien-Schlitten, mit dem wir für jegliches Gelände gewappnet sein würden. Egal ob wir unser Gepäck per Ski über Eis und Schnee ziehen müssen, über schneefreie Tundra oder gar Wasserflächen überqueren. Tatsächlich hatte ich Partnerfirmen gefunden, die diese Vision genauso begeisterte wie mich – und die sie nach 10 Monaten gemeinsamer Entwicklungsarbeit Wirklichkeit werden ließen .
Die Sonne funkelt auf den Eiskristallen, ein leichter Wind malt Wolken-Gesichter in den tiefblauen Himmel. Am 31. Mai 2016 setzen wir tatsächlich den ersten Expeditions-Schritt auf den Boden von Baffin Island. Mich packt diese Mischung aus Tatendrang, Anspannung und kindlicher Vorfreude, die ich immer spüre, wenn ich zu einem neuen Abenteuer aufbreche. Unser Startpunkt ist das Örtchen Clyde River an der Nordostküste der Insel. Abgeschieden leben hier etwa 900 Inuit, mit der Außenwelt nur verbunden durch Transportflugzeuge, die regelmäßig Lebensmittel und Benzin vorbei bringen. Einige Bewohner winken uns zum Abschied hinterher. Dass sie uns für Verrückte halten, haben sie uns am Vorabend bereits höflich mitgeteilt. 170 Kilometer da raus bis zu Sam Ford Fjord, auf Ski statt mit Motorschlitten, mit 280 Kilo Proviant und Ausrüstung? Keiner von ihnen würde sich das freiwillig antun. Die Inuit sprechen es nicht aus, aber im Grunde sind wir für sie wohl beides: Nerds und total retro.
Die Gurte von Rucksack und Schlitten zerren an meinen Schultern und meiner Hüfte, die minus 15 Grad kalte Luft brennt in meiner Lunge. Zur Vorbereitung habe ich zu Hause monatelang Kraft-Ausdauer trainiert, zusätzlich zu meinem normalen Klettereinheiten. Trotzdem müssen wir an den ersten Tagen zunächst unseren Rhythmus finden. Wie lange laufen wir am Stück, wie oft machen wir Pause? Welches Tempo ist das richtige, damit sich unsere Körper an die Belastung gewöhnen? Weil das Meer in der Baffin Bay dieses Jahr auch im Mai noch mit einer dicken Eisschicht bedeckt ist, haben wir für den Hinweg eine Route entlang der Küste gewählt. Die ebene Strecke auf dem gefrorenen Wasser ist kraft- und zeitsparender als über den zerklüfteten Landweg. Das kommt uns besonders beim Anmarsch entgegen, wenn unsere Proviantsäcke noch voll und schwer sind. Wir rechnen mit etwa zehn Tagesetappen bis zu unserem Kletterziel: den mächtigen Wänden im Sam Ford Fjord. Wenn alles gut läuft.
1,5 Stunden marschieren, 15 Minuten Pause, vier bis fünf solcher Zyklen pro Tag. Dann Lagerplatz suchen, Zelt aufbauen, Trockennahrung mit heißem Wasser aufgießen. Nachtruhe wann immer uns die Augen zufallen, denn die Sonne geht um diese Jahreszeit nie unter. Aufbruch möglichst um Mitternacht, weil nachts die Schneeoberfläche härter wird und wir die Schlitten leichter ziehen können. Soweit unser Rhythmus. Nach ein paar Tagen haben wir ihn gefunden.
Das Wetter ist uns wohlgesonnen, wir kommen gut voran. Auch Eisbären-Begegnungen bleiben uns erspart, weil die Tiere offenbar weit draußen auf dem gefrorenen Meer noch genügend Robben-Jagdgründe finden. Das kenne ich auch anders. Im Jahr 2000 war ich schon einmal mit meinen Freunden Kurt Albert, Holger Heuber und dem Fotografen Gerd Heidorn für eine Expedition auf Baffin-Island. Im Sommer und in einem andern Teil der Insel. Damals mussten wir jede Nacht mit einer geladenen Schrotflinte abwechselnd Wache halten – weil der Eisaufbruch die Tiere vom Meer auf das Festland trieb, sie dort keine Robben jagen konnten und deshalb uns und unsere Proviantsäcke ziemlich spannend fanden.
Doch obwohl jetzt eigentlich alles rund läuft: Im Kopf kann ich nicht locker lassen. Ich bin angespannt wie bei keiner Expedition zuvor. In Deutschland hatten uns Polarforscher vorgewarnt: Das Klima hat sich in den letzten Jahrzehnten so verändert, dass der Zustand von Eis und Schnee um diese Jahreszeit nicht planbar sein wird. Der Eisaufbruch - wenn der Frühling einsetzt, die meterdicken Eisschichten in der Baffin Bay langsam in Schollen zerbersten und das Eis in den Fjorden und auf den Seen im Inland stetig schmilzt - ist eine Laune der Natur. Besonders auf dem Rückweg werdet ihr jeden Tag aufs Neue entscheiden müssen, wo Euch das Eis noch trägt, wo Spalten entstehen oder gar riesige Wasserflächen. Und wie zeitaufwendig Euer Weg für jede Etappe werden wird.
Mich macht diese Ungewissheit nervös. Wir drei sind dauerangespannt – und uns nicht immer einig. Gemeinsame Entscheidungen zu treffen, Risiken abzuschätzen, ist schwieriger als bei anderen Kletterexpeditionen. Denn keiner von uns kann diese arktische Wildnis lesen wie die Inuit. Dass hier - statt wochenlanger Stürme in Patagonien oder sintflutartigem Regen in Venezuela – die größte Gefahr von dem sich ständig verändernden Boden unter unseren Füßen ausgeht, ist für mich eine neue mentale Belastung. Und verbunden mit den Bedenken meiner Partner zermürbt sie mich mehr als ich dachte.
Doch wir haben Glück. Als wir vom Meer in den Eglinton Fjord einbiegen, ist auch diese Wasserpassage noch fest zugefroren. Und auch unsere erste Etappe über Land, durch das Revoir Valley, zeigt sich schneebedeckt. Problemlos können wir unsere Schlitten auf Kufen ziehen. Und so liegt unser Ziel, nach neun Tagen Anmarsch, schließlich in aller Pracht vor uns: Die imposanten Big Walls des Sam Ford Fjords.
Als sich meine klammen Finger und Füße das erste Mal an winzige Vorsprünge in der riesigen Felswand pressen, klopft mein Herz – und ich muss lächeln. Ich fühle mich klein und unbedeutend wie eine Fliege und zugleich stolz und entschlossen wie ein echter Abenteurer. Welche Wand wir letztendlich klettern, wollten wir erst vor Ort festlegen. Hier angekommen fiel uns die Entscheidung nicht schwer: Eine Route an der Westwand des mächtigen Turret zog uns sofort in ihren Bann. Doch jetzt sitzt uns die Zeit im Nacken. Die Oberfläche des Fjordes ändert bereits ihre Farbe - von reinem Weiß in wässriges Blau, in dem sich die Berge spiegeln. Das Eis beginnt zu tauen. Wieder legt sich diese beklemmende Anspannung über uns. Wie viele Tage erlaubt uns die Natur, bevor sie den Rückweg zu einem zeitraubenden Lotteriespiel macht? Können wir uns einen Ruhetag leisten – oder wird genau dieser Tag zu viel uns vielleicht zum Verhängnis werden, weil wir eine Passage nur mit viel Energie- und Zeitaufwand überqueren können und für einen Umweg der Proviant nicht reicht? Klar ist: Wir müssen uns beeilen.
Kraft, Konzentration, Taktik. Die Wand des Turret fordert uns in jeglicher Hinsicht. Robert und ich wechseln uns mit dem Vorstieg ab. Ich bin vollkommen auf unser Ziel fokussiert: Den Gipfel als erstes Kletterteam über diese Route zu erreichen - eine Erstbegehung. Doch dann überrascht und der erste Schock. Genau in unserer Traumlinie stoßen wir auf alte verrostete Haken und Bohrhaken. Das heißt: Es waren schon Kletterer vor uns hier. Zwar wussten wir von unseren Recherchen, dass sich weiter rechts schon einmal ein kanadisches Team am Turret versuchte, aber wegen schlechten Wetters abgebrochen hatte. Diesen Teil der Westwand aber hielten wir für jungfräulich, so war es auch von den Kanadiern beschrieben.
Ich fluche. Kämpfe mit der bitteren Erkenntnis, dass andere dieses Kletter-Juwel offenbar früher entdeckten. Wieder zu Hause fand ich über den Herausgeber des American Alpin Journals Dougald MacDonald heraus, dass vor 21 Jahren Warren Hollinger, Jerry
Gore, Mark Synnott diese Route als Erste kletterten und Nuvualik tauften.
Und eine zweite Einsicht offenbarte sich: So wichtig uns die Philosophie „by fair means“ für Anmarsch und Rückmarsch war – jetzt entpuppt sie sich als Limit. Denn ohne Schneemobile und zusätzlichen Proviant bleibt uns keine Zeit, um noch eine alternative Wand und Route zu suchen, die wir tatsächlich als allererste klettern könnten.
Ich brauche eine Weile, um die Situation zu akzeptieren: Du gibst alles, quälst dich 170 Kilometer in die Einöde - und dann war genau hier, an diesem Stück Fels, schon jemand vor dir da. Wie Hase und Igel… Es sind der atemberaubende Weitblick und die Schönheit des Gesteins, die mich schließlich besänftigen. Ich will dieses Erlebnis trotzdem genießen. Bis etwa 100 Meter unterhalb des Gipfels gelingt mir das auch. Dann erteilt mir die Wand die nächste Lektion.
Ich höre ein Rumpeln, Sekunden später spüre ich den Schmerz. Robert klettert gerade über mir, ich stehe etwa 15 Meter unterhalb mit Klaus am Standplatz, um ihn zu sichern. Oben hat sich ein Steinschlag gelöst, zwei faustgroße Felsstücke krachen mir direkt auf die Hände. An meiner linken Handinnenfläche reißt mir ein Stein einen großen Hautfetzen am Daumenballen weg, rechts donnert ein zweiter außen auf mein Handgelenk. Ich bin fassungslos. Oben sehe ich den Gipfel, wie zum Greifen nahe – doch direkt vor mir nur zwei nutzlose Gliedmaßen, mit Blutergüssen, schmerzend und geschwollen.
Für etwa eine Stunde wissen wir nicht, ob und wie es weitergeht. Als wollte uns die Natur jetzt erst so richtig testen, zieht auch noch Sturm auf und es beginnt zu schneien. In mir brodelt die Wut, aber auch der Wille. Wir sind so weit gekommen, haben so viel investiert, Aufgeben ist keine Option. Robert und ich entscheiden, dass er die letzten Seillängen alleine vorsteigen muss. Mit meinen verletzten Händen kann ich ihn nur noch sichern und dann mit Steigklemmen nachkommen. Auch Robert ist fest entschlossen, obwohl der Schneesturm immer stärker wird. Auf den letzten 80 Metern ist die Felswand so vereist, dass wir uns nur im Schneckentempo vorkämpfen können. Doch dann überwinden wir tatsächlich die Kante zum Gipfelplateau. Und dieser Ort belohnt uns mit allem, was er aufzubieten hat. Wie ein Geschenk der Natur, nur für uns drei, hier oben am Ende der Welt.
Für rund zehn Minuten stehen wir einfach nur da. In der Magie dieses Augenblicks sagt niemand ein Wort. Im Grunde spüren wir schon jetzt, was uns später noch klarer werden wird. Warum wir uns in solche Abenteuer stürzen, uns quälen und kasteien? Für Momente wie diese. Manchmal sind sie im Verhältnis zu der Plackerei drumherum nur sehr kurz. Aber so intensiv, dass wir uns ein Leben lang an sie erinnern. Dort oben auf dem Turret wird uns allen klar: Wenn wir zu einem echten Abenteuer aufbrechen, zu einer Kletterexpedition, dann ist der Erfolg nicht nur in den Fakten für die Kletterstatistiken messbar. Es ist dieser Augenblick, der zählt. Den ich ohne Wut und Enttäuschung zuvor wahrscheinlich nie so intensiv empfunden hätte. Genau hier zu sein, genau jetzt – das war den langen Weg wert.
Lang wird dann auch unser Rückmarsch. Und beschwerlicher als der Hinweg. Denn die Route über Land, einen Pass und den Ayr Lake hat tatsächlich innerhalb weniger Tage der Frühling erfasst. Es war richtig, nicht später aufzubrechen. Auf der Eisdecke der Fjorde steht bereits 30 Zentimeter hoch das Wasser, an Land wechselt der Untergrund zwischen Schnee- und Geröllpassagen. Und der Ayr Lake ist zwar noch zugefroren, doch wir wissen, dass das Eis manchmal durch Schmelzwasser- zuläufe tückisch von unten taut – und wir an diesen Stellen unerwartet einbrechen könnten.
Wieder haben wir Glück. Aber brauchen 13 Tage für noch einmal 170 Kilometer. Auch auf dem Rückweg schenkt uns die Natur unvergessliche Erlebnisse: Wie eine Eislandschaft plötzlich zum Leben erwacht. Wie nach Wochen ohne Gerüche und Laute plötzlich Blumen aus dem Boden sprießen, es nach Moos und feuchter Erde riecht. Wie Hummeln summen und aus endlosem Weiß wieder Farben werden.
Am 28. Juni zerren wir unsere Schlitten auf Mountainbikefelgen statt Kufen durch sumpfartigen Permafrostboden und laufen wieder in Clyde River ein. Aus eigener Kraft - bis zum letzten Schritt. Auch jetzt winken uns die Inuit lachend zu. Vielleicht hatten sie nicht damit gerechnet, dass wir hier tatsächlich wieder aufkreuzen.Vielleicht verkneifen sie sich die Frage, ob wir nicht genug Robbenfett gegessen haben, warum wir so ausgemergelt aussehen - denn jeder von uns hat seit dem Start vor 29 Tagen rund 10 Kilo abgenommen. Doch was auch immer sie sich bei unserem Anblick denken: Sie laden uns zu etwas ein, das wir selten so genossen haben: einem Becher Kaffee, heiß und stark. Und einem vor Fett triefenden Burger. In einer kargen, aber warmen Stube. Ja, manchmal ist der Weg das Ziel eines wilden Abenteuers. Manchmal sind es die großen, bombastischen Augenblicke. Aber manchmal auch einfach die ganz kleinen Momente stiller Zufriedenheit – so wie dieser.