Klaus Fengler

Outdoor Photography

Reportage: Patagonien

Patagonien

Von

Tom Dauer

Tag 1: Gobernador Gregores – Puesto

Etwas ungelenk sieht er aus. Etwas zu groß für das gedrungene, mausgraue Pferd. Er ist angespannt, hält den Rücken zu gerade, seine Finger sind um die Zügel verkrampft, die Hände viel zu weit nach vorne geschoben. Aber wie soll er es auch anders wissen? Klaus Fengler ist kein Reiter. Er sitzt heute zum ersten Mal im Recado, dem argentinischen Sattel, der nicht einmal einen Knauf hat, an dem er sich festhalten könnte. Ganz anders seine drei Begleiter. Sie sind Gauchos, argentinische Cowboys – und mit ihren Pferden verwachsen.

Ihr mitleidiges Lächeln schreckt Fengler nicht von seinem Vorhaben ab. Der 45-Jährige hat schon genug durchgestanden. Ist in Sibirien Ski gefahren, auf Baffin Island als Erster durch hohe Wände geklettert. Er ging in Rumänien auf die Wolfspirsch und segelte in die Antarktis. Da wird er auch dieses Abenteuer bestehen: Mit seinen Freunden Sergio Antonio Labrin, Roberto „Koko“ Alfaro und Marcelo Pagani sowie acht Pferden will er durch die Einöde Patagoniens reiten. Zwei Wochen lang, etwa 40 Kilometer pro Tag: im Schritt von Gobernador Gregores, einem verstaubten Nest in der Provinz Santa Cruz, bis El Chaltén am Fuß der Anden. Als er nach dem ersten Reittag vom Rücken seines Pferdes steigt, kann er kaum noch gehen. Sein Hintern schmerzt, und die Innennähte seiner Hose haben die Oberschenkel aufgescheuert.

Fengler tut trotzdem so, als sei alles bestens. Die Welt, in die er aufgebrochen ist, ist eine Männerwelt. Über Schmerzen wird da nicht gesprochen. Stattdessen hilft er Sergio und Koko, die Pferde zu füttern. Das wird jeden Abend so sein: Erst kommen die Pferde, dann ihre Besitzer. Die argentinischen Gauchos, die Rinder- und Schafhirten, lieben ihre Reittiere. Kleine, muskelbepackte Criollos, Nachfahren der Andalusier und Berber, die die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert nach Südamerika brachten. Gegenseitig sind sie sich treue Begleiter. Vor allem jetzt, im August, da in Patagonien der Winter Einzug hält – und weder Mensch noch Tier alleine in der Pampa überleben könnten.

Als Sergio, Koko, Marcelo und Klaus ihre Schlafsäcke ausrollen, beginnt es leicht zu schneien. Zum Glück gewährt „Pinocchio“ ihnen Unterkunft. Der Gaucho gehört zu den wenigen Männern, die auch im Winter auf den Estancias ihrer Herren – oder auf einem Puesto, einem Außenposten – ausharren. Während die Züchter die kalte Jahreszeit in Buenos Aires verbringen, bewachen ihre Gauchos die Herden. Schützen die Schafe vor dem Erfrieren, jagen Pumas, reparieren Zäune, die von den kalten Winterstürmen eingerissen wurden. Ab und an fangen sie auch ein Wildpferd ein, um es zuzureiten und anschließend zu verkaufen. So bessern sie ihren Verdienst von 200 US-Dollar im Monat auf. Wie lange Pinocchio diese Arbeit schon macht, daran kann er sich nicht erinnern. Wie alt er ist, daran mag er nicht denken.

An der Wand seiner Holzhütte hat er einen Kalender aufgehängt, in dem er jeden vergangenen Tag ausstreicht. Der Kalender ist seine einzige Orientierung. Seine Frau und seine Kinder wohnen in der Stadt. Über ein Jahr lang hat er sie nicht mehr gesehen.

„Gaucho“ ist ein Wort aus der Indianersprache Mapuche, wörtlich steht es für „Waise“, im übertragenen Sinne für einen Mann ohne Bindungen. In Argentinien ist der Gaucho eine Symbolfigur, umgeben von einer Aura der Individualität, Melancholie, Unabhängigkeit und Freiheit. 1872 mystifizierte der Journalist José Hernández den Gaucho mit seinem Versepos „Martín Fierro“; er schuf damit einen Typus des südamerikanischen Mannes, dessen unstillbare Liebe zur Wildnis stärker ist als seine familiären und gesellschaftlichen Wurzeln. So glorifizierend es ist, so Identität stiftend war Hernández’ Werk in einem jungen, von Krisen und Kriegen gebeutelten Argentinien. Die Gauchos selbst taten ihr Übriges: Sie pflegen bis heute das Bild des einsamen, ehrlichen und stolzen Mannes, der immer nur so viel wert ist wie sein bestes Pferd.

Tatsächlich gelten die Gauchos als begnadete Reiter. Eines der schönsten Zeugnisse ihrer Kunst – und das erste, das nach Europa vordrang – schuf Charles Darwin. Der Naturforscher bereiste Patagonien zwischen 1833 und 1834; in seinem „Tagebuch naturgeschichtlicher und geologischer Untersuchungen über die während der Weltumseglung auf J.M. Schiff Beagle besuchten Länder“ hielt er fest: „Dass die Gauchos abgeworfen werden könnten, mag das Pferd auch tun, was es will, kommt ihnen nie in den Sinn.

Ihre Probe eines guten Reiters besteht darin, dass ein Mann ein ungezähmtes Füllen regieren kann, oder dass er, wenn sein Pferd fällt, auf seinen eigenen Füßen steht oder andere Künste der Art vollbringen kann… Ich habe ein Pferd feurig springen sehen, und doch wurde es nur mit dem Zeigefinger und Daumen gelenkt; dann wurde es in vollem Galopp über einen Hof geführt und um den Pfosten einer Veranda mit der größten Schnelligkeit herumgeschwenkt, aber in so gleicher Entfernung, dass der Reiter mit ausgestrecktem Arm während der ganzen Zeit mit einem Finger den Pfosten rieb. Dann machte es eine halbe Volte in der Luft, und während der Reiter den anderen Arm auf gleiche Weise ausstreckte, drehte es sich mit erstaunlicher Kraft in der entgegen gesetzten Richtung um. Ein solches Pferd ist gut zugeritten und obgleich dies auf den ersten Anblick nutzlos scheint, so ist das durchaus nicht der Fall. Es verrichtet bloß auf vollkommene Weise, was täglich notwendig ist.“

Tag 3: Zur Estancia Las Tunas

Zum Frühstück drehen sich Sergio und Koko die erste Zigarette des Tages. Dazu reicht Marcelo die Kalebasse mit dem Mate herum; einer nach dem anderen zieht an der Bombilla, einem metallenen Trinkhalm. Das Ritual dauert so lange, bis sich alle an dem Aufgussgetränk gewärmt haben.

Als die Männer aufbrechen, liegt der Raureif fingerdick auf dem Gras, das in kleinen Büscheln – wie Igel – aus dem kargen Boden wächst. Überweidung und Viehtritt haben in großen Teilen Patagoniens den Boden über Jahrzehnte hinweg porös gemacht. Der Wind, der täglich aus den Anden über die Pampa Richtung Atlantik pfeift, trägt den fruchtbaren Humus in alle Richtungen. Mit unsentimentalem Blick hatte schon Darwin die patagonische Landschaft beschrieben: „Alles war still und öde. Man fragt sich, wie viele Jahrhunderte die Ebenen in diesem Zustand verharrt haben und wie viele weitere ihr noch so zu beharren bestimmt sein möchten…

Die vollkommene Ähnlichkeit der Naturerzeugnisse durch ganz Patagonien ist einer seiner auffallendsten Züge. Die flachen Ebenen, mit unfruchtbarem Trümmergestein bedeckt, tragen dieselben verkümmerten und zwerghaften Pflanzen, und in den Tälern wachsen dieselben Dornen tragende Gebüsche. Überall sahen wir dieselben Vögel und Insekten.“ Einige Zeilen weiter findet er vernichtende Worte: „Der Fluch der Unfruchtbarkeit liegt auf dem Lande.“

Zum Glück sind die Criollos sehr trittsichere Pferde, sonst könnten sie den steilen Abstieg hinunter zum Lago Cardiel kaum bewältigen. Klaus steigt trotzdem lieber ab. Sein Pferd ist ebenso gutmütig, ebenso duldsam wie die meisten Criollos, dennoch traut der Reitnovize ihm noch nicht. Er führt es den leicht verschneiten Hang hinunter, rutscht immer wieder aus, klammert sich an die Zügel wie an eine Rettungsleine. Bald weiß man nicht mehr genau, ob der Reiter auf sein Ross oder dieses auf ihn aufpasst. Als Klaus die Estancia Las Tunas erreicht, ist das Abendessen schon zubereitet: ein Gulasch aus Lammfleisch, Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch. Es gibt jeden Abend Lammfleisch. Das ist das einzige, was in Patagonien im Überfluss vorhanden ist.

Strom gibt es hier dagegen keinen. Im Winter, wenn es gegen 18 Uhr dunkel wird, ist eine Druckpetroleumlampe die einzige Lichtquelle, der sich der Gaucho „Gurachov“ bedient. Seit etwa 45 Jahren lebt der Mann an diesem Ort, über die Hälfte seines Lebens. Aus Russland war sein Vater nach Südamerika emigriert, hatte eine Indianerin geheiratet, ein Kind gezeugt und sich irgendwann davongemacht. Gurachov kommt etwa alle zwei Jahre in die nächste größere Siedlung. Vermissen tut er nichts. Nur ab und zu geht er am Lago Cardiel zum Fischen. Um nicht so viel schlachten zu müssen.

Tag 7: Estancia La Victorina – Estancia La Bernarda

Natürlich sei er der bessere Reiter, hatte Sergio am Abend gesagt. Wie er denn da drauf komme, erwiderte Koko. Hin und her flogen die Frotzeleien: Du bist doch vor fünf Tagen in den Fluss gefallen. Aber dich hat damals das junge Pferd abgeworfen… Bis Sergio sein schwarzes Barett in den Ring warf: „Ich wette, das ich schneller reiten kann als du.“

Es dämmerte schon, als die beiden Männer sich auf ihre Pferde schwangen. Ohne Sättel, in gestrecktem Galopp jagten sie in die untergehende Sonne. Zwei bärtige Männer in ihren flatternden Bombachas, den weiten Gaucho-Hosen. Im Gürtel das Facón, das Jagdmesser, in der Hand die Rebenque, die Peitsche, mit der sie ihre Pferde nur anzutippen brauchen, schon rennen sie los. Nach 100 Metern hatte Sergios schwarzer Wallach eine Kopflänge Vorsprung. Jauchzend und johlend trabten die beiden Jockeys zurück. Strahlend wie die Kinder.

Eigentlich gibt es ja nichts in Patagonien, was in klassischem Sinne eine Reise wert wäre: Es gibt keine Sandstrände, keine Paläste. Patagonien ist Ödland, staubig und windig, im Winter auch kalt. Die „Porteños“, die Einwohner von Buenos Aires, schielen hochnäsig auf ihre südliche Provinz, die sie nicht kennen und fürchten. So schreibt der argentinische Schriftsteller Mempo Giardinelli, der Patagonien mehrere Monate lang bereiste: „Diese Region ist in unseren Augen ein Ende, das man nicht sehen will… Eine leere Größe, eine Wohnstatt für Mysterien.“

Für Sergio und Koko bedeutet Patagonien in erster Linie ganz reale, harte Arbeit. Beide sind Ende 30, beide müssen eine Familie ernähren. In den Sommermonaten verdingt sich Sergio als Wirt und Hausmeister einer Trekkingstation im Parque Nacional Los Glaciares. Sein Freund Koko lenkt die Planierraupe einer Straßenbaufirma, die dunkle Streifen Asphalts dem Horizont entgegen treibt. „Linien“, schreibt Giardinelli, „aus dem Nichts vorbei am Nichts ins Nichts“. Dazu lebt Koko 22 Tage am Stück in einem Bauwagen, alleine mit sich, seinen Essensvorräten und Dieselfässern. Danach hat er acht Tage frei. Für ihren zweiwöchigen Wanderritt haben beide Männer ihren Jahresurlaub genommen. Das Abenteuer als Zeitreise: Die Besuche bei den Gauchos sind für Sergio ujnd Koko wie ein Blick zurück in ihre eigene Vergangenheit – und in eine Zukunft, die nicht mehr die ihre sein wird.

500 Höhenmeter müssen Reiter und Pferde heute aufsteigen, hinauf auf die Hochebene, deren Namen nicht von ungefähr kommt: „Meseta La Siberia“. Über offene, ungeschützte Flächen reiten die Männer dem Wind entgegen. Tief haben sie ihre Mützen in die Stirn geschoben, Kinn und Mund in Schals vergraben. Klaus trägt Hose und Jacke aus Daunen, trotzdem geht die Kälte ihm durch Mark und Bein. Sergio und Koko haben Füßlinge über ihre Stiefel gezogen, die sie aus den Fellen von Guanakos genäht haben. In großen Herden streifen die Verwandten der Lamas durch die Pampa Patagoniens. Grazil, majestätisch langsam schreitend, und doch ständig auf der Flucht vor ihren Jägern: Pumas und Gauchos.

Gegen Mittag findet Sergio einen Calafatestrauch, ein Berberitzengewächs, das im Frühling gelb blüht. Wer seine blauen Beeren kostet, so will es die Legende, wird Patagonien hoffnungslos verfallen. Für solches Sentiment ist es Sergio zu kalt: Er zündet den Strauch an – so lange er brennt, können sich die Männer ihre Hände am Feuer reiben. Als sie weiter reiten, verhüllen dichte Wolken die Granitnadeln von Cerro Torre und Fitz Roy. Bald schon wird schlechtes Wetter die Männer überrollen. Schlechtes Wetter bedeutet in Patagonien Wind. Wind, der Dächer von den Häusern reißt und Brücken aus ihren Verankerungen. Sergio und Koko mahnen zur Eile. Es dauert nicht lange, dann sind sie den Blicken von Klaus und Marcelo entschwunden. Orientierungslos reiten die beiden Richtung Tal. Nebel hüllt sie ein, es beginnt zu schneien, der Wind frischt auf. Ein Zaun versperrt den beiden Reitern den Weg. Sie steigen ab, schmiegen sich an die dampfenden Pferdeleiber. Stecken die Hände in ihre Jackentaschen, stampfen mit den Füßen auf den gefrorenen Boden.

Fast ist es dunkel, als sie Hufgetrappel hören. Koko ist ihnen entgegengeritten. Erleichtert folgen sie ihm zur Estancia La Bernarda. Es gibt Lammfleisch. Selten hat es Klaus so gut geschmeckt.

Tag 8: Estancia La Bernarda

Gauchos haben ein archaisches Verhältnis zu ihren Tieren. Sie hegen und pflegen, sie schützen sie; aber sie haben auch keine Skrupel, sie für den eigenen Bedarf zu töten. Lange hat Sergio sein Messer am Schleifstein geschliffen. Er hat ein Schaf ausgewählt, es von den anderen im Stall getrennt, seine Hinterläufe gepackt, es umgeworfen. Mit einem schnellen Schnitt schneidet er dem blökenden Tier die Kehle durch. Bis es ausgeblutet ist, hält Sergio den zuckenden Körper fest. Es dauert keine Stunde, dann ist das Schaf ausgenommen, sein Fell abgezogen und der Körper in gut transportierbare Einzelteile zertrennt. Der Proviant für die kommenden Tage.

Tag 11: Estancia 9th of July

Nachnamen haben für Gauchos keine Bedeutung. Wozu auch, sie müssen keine Anträge unterschreiben, sie bekommen keine Telefonrechnung, sie bezahlen nicht mit Kreditkarte. Gaucho „Hernandez“ ist 80 Jahre alt. Er lebt seit 45 Jahren auf der Estancia 9th of July, die den Tag der argentinischen Unabhängigkeit im Namen trägt. Seit sechs Jahren hat er keinen Kontakt zur Außenwelt mehr. Weil er keinen haben will.

Für Sergio, Koko, Marcelo und Klaus stellt er einen gusseisernen Kessel Wasser auf das offene Feuer, das er jeden Morgen entzündet. Heute ist Waschtag. Der erste seit zehn Tagen.

Tag 12: Estancia 9th of July – Puesto Congrejo

Über Nacht hat es geschneit. Hüfttief liegt der Neuschnee auf Hügeln und Hängen. Wasserläufe sind von einer tückischen Schicht Weiß bedeckt – tückisch für die Pferde, die hier jederzeit einbrechen und sich verletzen können. Die Reiter steigen ab und gehen neben ihren Tieren. Manchmal wühlen sie sich auch voraus, um eine Spur zu legen.

Tag 14: Nach El Chaltén

Am Nordufer des Lago Viedma reiten die vier Männer ihrem Ziel entgegen: El Chaltén, dem Dorf am Ende der Straße. 1985 ließen sich die ersten Pioniere am Lauf des Rio de las Vueltas nieder. Inzwischen ist das kleine Dorf gewachsen; es gibt drei Supermärkte, zwei Bäckereien, ein Krankenhaus und eine Frauenfußballmannschaft. Marcelo ist am Fuß der patagonischen Anden zuhause: Der 39-Jährige war einer der Ersten, die sich in El Chaltén ansiedelten, um mit dem aufkommenden Berg- und Trekkingtourismus Geld zu verdienen. Inzwischen leben ihm in dem 500-Seelen-Dorf zu viele Menschen. So hat er sich etwas außerhalb, mitten in der Wildnis, seine eigene Estancia gebaut.

Als die vier Männer ihre Pferde absatteln und anbinden, tritt Marcelos Frau aus dem Haus. Sie sollten sich beeilen, sie habe gekocht, das Essen sei fertig. Zur Feier des Tages gibt es Lammfleisch.