Acopan
Von Tom Dauer für Stern
Er öffnet seine Augen, starrt in die Finsternis. Er schließt seine Augen, atmet tief ein, seufzt. Er nimmt die Arme aus seinem Schlafsack, fährt sich mit den Händen durch schwarzgraue Locken, verschränkt sie hinter dem Kopf, vergräbt sie wieder. Er dreht sich zur Seite, auf den Bauch, wieder zurück. Vorsichtig, denn das Felsband, auf dem er liegt, ist schmal.
Und der Dschungel liegt 600 Meter unter ihm. Die halbe Nacht sucht Stefan Glowacz schon nach Schlaf. Vergeblich.
Es ist nicht die Tiefe, nicht die Ausgesetztheit, die ihn beunruhigt. Es macht ihm nichts aus, in einer senkrechten Wand zu schlafen. Daran ist er gewöhnt. Was Glowacz quält, was ihn wach hält, sind Fragen: Warum haben wir gestern den Kletterhammer fallen gelassen? Warum ist die Seilschlaufe gerissen, und damit ein Sack voller Haken, Klemmkeilen und Karabiner in die Tiefe gestürzt? „Das sind doch Zeichen.“
Genauso wie der Regen, der jede Nacht einsetzt. Der Wind, der um die Felsen heult. Der Fels, der so brüchig ist wie morsches Holz und der die Kletterei extrem gefährlich macht. „Die Götter“, hatten die Indianer am Fuß des Berges gesagt, „mögen es nicht, wenn man ihren Thron besteigt.“ Vielleicht, denkt Glowacz, ist dieser Aberglaube doch eine andere Wahrheit.
Zwei Wochen zuvor hatten die Extrembergsteiger Glowacz, Kurt Albert, Holger Heuber und Ivan Calderón mit Fotograf Klaus Fengler, Kameramann Jochen Schmoll und Arzt Tilo Marschke 400 Kilo Gepäck auf einen weißen Toyota geladen. Von Caracas fuhren sie nach Kavanayen, drei Tage lang, vom Norden in den Südosten Venezuelas. Mitten hinein in die Gran Sabana, in der sich Savanne, Palmenhaine und Tropenwald zu einem immergrünen Fleckerlteppich verschränken. Aus dem sanft gewellten Hochplateau ragen seltsame Berge auf: Tepuis, 115 insgesamt. „Inseln in der Zeit“ nennen Wissenschaftler diese Tafelberge, weil ihre zerklüfteten Gipfel Archive der Evolution sind. „Häuser der Götter“, sagen die Pemón-Indianer, die die Gran Sabana seit 600 Jahren besiedeln.
Es war 19 Uhr, knapp nördlich des Äquators schon stockdunkel. Im „Restaurant Guadalupe“ hatten Glowacz und Gefährten ihren Reis samt verkochten Kartoffeln gespeist, als der Alkalde, der Dorfvorsteher Kavanayens, hereinkam. Er wendete sich an Calderón, den er schnell als Landsmann identifizierte. Was sie denn wollten, die Fremden? „Den Rio Karuai hinunterfahren und die Nordwand des Acopan Tepui durchsteigen.“ Ob sie denn eine Regierungsgenehmigung hätten? „Brauchen wir die überhaupt?“ Die brauche jeder, der sich im Land der Pemón bewegen wolle. „Was kostet sie denn?“ Der Alkalde schwieg. Es dauerte Stunden, bis sein Preis feststand: für eine Erlaubnis und den Wunsch, von den Besuchern des Indianerlandes zu profitieren. Die Expedition musste zwei indianische Führer mitnehmen, sie verpflegen und bezahlen. Bis Yunek.
Camillo und Roberto legten am folgenden Morgen gleich kräftig Hand an. Halfen der Mannschaft, drei Faltkanadier zu beladen: mit Seilen, Haken, Karabinern, Rucksäcken, Zelten, Kochern, Verpflegung für 18 Tage. Mehl, Reis, Kartoffeln, Nudeln, Kekse, Schokolade, in wasserdichten Säcken verpackt. Camillo und Roberto, kräftig und untersetzt der eine, dünn und drahtig der andere, trugen nichts als ihre Kleidung. Baumwollhemd und Hose, in den Gummistiefel waren sie barfuß. Geräuschlos stachen sie ihre Holzpaddel in den Rio Karuai, steuerten ihre Curiara, den Einbaum, immer nahe am Ufer entlang. Tief eingeschnitten mäandert der Fluss durch die Gran Sabana, gesäumt von dichten Galeriewäldern.
„Das sieht aus wie ein Tunnel aus Bäumen“, sagte Glowacz. Schon als Kind hatte der 42-Jährige aus Garmisch-Partenkirchen von einem Leben als Entdecker geträumt. Erst aber lernte er Werkzeugmacher. Er trainierte hart, gab seinen Beruf bald für eine Karriere als Profikletterer auf, wurde Weltmeister, bekam Sponsoren. Heute bereist er Patagonien, Alaska, Baffin Island, die Antarktis, Kenia und Venezuela, um auf nie bestiegene Gipfel zu klettern. Wie auf den Acopan Tepui. „Weil es nichts Schöneres gibt, als morgens aufzubrechen, ohne zu wissen, wo man abends sein Lager aufschlagen wird.“ So lange alles gut geht. So lange man nicht aus dem Boot steigt. Wie in der riesigen Walze, die Glowacz und Heuber aus ihrem Faltkanadier warf. Einen Tag später riss eine Unterwasserwurzel ein Leck in das Boot von Albert und Calderón. Am letzten Tag der Flussfahrt kenterten Marschke, Fengler und Schmoll, „das Presseboot“. Schmolls Kamerastativ blieb in den Fluten des Rio Karuai verloren. Als ob die Götter sich auch dagegen wehrten, gefilmt zu werden.
„Das sind doch Zeichen.“ Glowacz schüttelt den Kopf, als wolle er ein Hirngespinst abwerfen. Er denkt an seine Drillinge daheim, an seine Frau und an das, was man denkt, wenn man an seine Frau denkt. Bis ihn der Schrei eines Aras aus dem Halbschlaf befreit. Gerädert schält sich Glowacz aus dem Schlafsack. Auf dem Kletterseil sitzt ein daumengroßer, grün-braun gesprenkelter Frosch mit schwarzen Glupschaugen. „Glotz mich nicht so an“, sagt Glowacz. Sein klammer Schlafsack, der feuchte Fels, die Wassertropfen an Haken und Helmen zeugen vom Regen der Nacht. Dichter Nebel verschleiert die letzten 150 Meter, die noch zwischen den Kletterern und dem Gipfel des Acopan Tepui liegen. „Sieht ganz schön bedrohlich aus“, sagt Glowacz, als Heuber, Albert und Calderón wach werden. Er hat aufgehört, zwischen realer und gefühlter Gefahr zu unterscheiden.
In ihren Faltkanadiern hatten es die Kletterer leichter. Da war es der Rio Karuai, der ihnen den Weg vorgab. Sieben Tage und 100 Kilometer lang folgte ein Paddelschlag auf den anderen. Glowacz’ Sitzknochen schmerzten, seine Kniegelenke wurden steif. Abenteuer wurde Routine – und zugleich machte sich das Gefühl ständiger Bedrohung breit. Ein Rascheln im Wald, ein Tapir vielleicht. Der Flügelschlag von tausend Schmetterlingen, die aus den Sandbänken am Ufer Mineralsalze saugten. Das ferne Dröhnen einer Stromschnelle, eines Wasserfalls, der umtragen werden musste.
Die ständige Angst, dabei auf eine Schlange zu treten. Fremde Geräusche, fremde Gerüche, eine andere Welt. In der sich nur Camillo und Roberto mit Gleichmut bewegten, vertrauend auf ihr Wissen und ihre Erfahrung. „Wie wollen die eigentlich ihren Einbaum tragen?“, wunderte sich Heuber, als sich die Expedition dem ersten von vielen Wasserfällen näherte. Die beiden Indianer ließen ihr Boot einfach liegen – denn die Gemeinschaft der Pemón weiß hinter jedem Wasserhindernis eine Curiara. Wer flussabwärts paddelt, hat immer einen Einbaum zur Verfügung. Ist die Reise beendet, reist der Nächste flussaufwärts – und bringt die Einbäume zurück.
Heute machen die Franken Frühstück: Holger Heuber, 44, der Kajakexperte, kocht Kaffee. Kurt Albert, 53, die lebende Kletterlegende, verteilt trockene Kekse. Beide sind seit Jahrzehnten Glowacz’ Expeditionsgefährten. Ein Jahr vor dieser Reise haben sie den Anmarsch zum Acopan Tepui ausgekundschaftet. Als sie die Nordwand des 2200 Meter hohen Gipfels zum ersten Mal sahen, sagte Albert: „So eine irre Wand habe ich noch nie gesehen.“ Ein Felspfeiler, der vom Wandfuß bis zum Ausstieg überhängt. Ein Bananenprofil, rotgelber Sandstein, ohne Bewuchs, trocken, kompakt. Ein Traumziel.
Und jetzt stehen die Kletterer kurz davor, die ersten Menschen auf dem Nordgipfel des Acopan Tepui zu sein. „Falls wir da raufkommen“, sagt Albert, „nennen wir die Route ,Fegefeuer’“. Da müsse schließlich jeder durch, der auf dem Thron der Götter sitzen will. „Ich hoffe“, sagt Glowacz, „dass wir nicht für all’ unsere Sünden büßen müssen“.
Er ist mit dem Vorstieg an der Reihe, fünf Seillängen sind es noch zum höchsten Punkt. Als er seine Kletterschuhe anziehen will, verzieht Glowacz vor Schmerz sein Gesicht. Seine Füße sind mit kleinen roten Flecken übersät, die Knöchel angeschwollen. Die Stiche der Jején, einer Sandfliege, jucken unerträglich. „La plaga“, die Plage, nennen die Pemón diese Mücke. Unter dem Nagel seines linken großen Zehs haben die Jején Eier abgelegt. Bevor die Maden schlüpfen können, hat Glowacz ihr Nest aufgeschnitten. Jetzt drückt der enge Kletterschuh gegen die Wunde. „Das ist die Strafe der Götter.“
Nachdem das Team vor Yunek gelandet war, marschierten die sieben Männer durch kniehohes Gras in die Indianersiedlung. Am Tucuschipang, dem runden Gemeinschaftshaus mit dem spitz zulaufenden Palmendach, stapelte Glowacz’ Gruppe ihr Gepäck. Vor den Hütten des Dorfes standen Hacken und Macheten. Keine Fahrräder, kein Spielzeug, keine Bänke, nichts. Keine Stromkabel, keine Antennen, keine Wasserhähne. Stattdessen Staubböden und Hängematten. Es dauerte nicht lange, bis Glowacz und Gefährten von Dorfbewohnern umringt waren. Jungen und Mädchen. Eine Mutter mit Säugling, den sie im Tragetuch barg. Ein Mann mit Blasrohr, Pfeilen und drei toten Vögeln in der Hand, gerade zurück von der Jagd. Schweigend betrachteten sie die Fremden. Bis sich der Alkalde in Jeans und Khakihemd aus der Menge schälte. „Ich bin Leonardo.“ Der Mann, von dem in diesem Moment das Gelingen der Expedition abhing.
„Wir wollen über eine neue Route auf den Acopan Tepui klettern“, sagte Ivan.
„Warum wollt ihr das tun?“
„Es ist unsere Berufung. Wir suchen das Abenteuer.“
„Die Götter werden das nicht mögen.“
Das war nicht einfach so dahingesagt. Leonardo, obwohl als junger Mann zum evangelischen Glauben konvertiert, ist doch eins mit den Mythen und Überlieferungen seiner Ahnen. Sieht sich selbst als Teil eines spirituellen Kosmos, der die Umwelt der Pemón zusammenhält. Ein kleiner Knoten in einem Netz mystischer Beziehungen zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen, dessen Spannung nicht durch Fehlverhalten zerstört werden darf. „Der Himmel wird sich verfinstern. Die Götter werden weinen.“
Seitdem die Expedition in Venezuela eingetroffen war, hatte es nicht geregnet. Am folgenden Tag, an dem die Männer mithilfe einiger Dorfbewohner ihr Gepäck ins Basislager trugen, öffnete der Himmel seine Schleusen. Seitdem regnete es täglich.
Mit ihren Macheten schlugen sich die Kletterer den Weg zwischen Basislager und Wandfuß frei. Durch ein senkrechtes Gewirr von Sträuchern, Farnen und Schlingpflanzen. Baum an Baum, die Äste ineinander verschränkt, bewachsen von Moosen, Lianen und Flechten. „Das ist ja hier schon wie klettern“, sagte Glowacz. „Klettern zwischen Blumentöpfen.“ Der Acopan Tepui spie einen gigantischen Wasserfall herab, gespeist vom Gipfel des Berges, dessen Inneres von mehreren hundert Meter tiefen Schlünden zerfurcht ist. In ihnen sammelt sich der Regen, um mitten in der Nordwand auszutreten.
Zum Glück ist diese so stark überhängend, dass Glowacz, Heuber, Albert und Calderón hinter dem Wasservorhang im Trockenen hingen. In Zweierteams suchten sie sechs Tage lang den Weg durch ein vertikales Labyrinth aus Platten, Rissen, Überhängen und weit ausladenden Dächern. Klettern unter Damoklesschwertern: Der Fels war nicht kompakt wie erhofft, der Fels war ein senkrechtes Schotterfeld. Telefonzellengroße Felsblöcke spalteten sich von der Wand ab. So weich war der Sandstein, dass man mit dem Finger hineinbohren konnte. „Die Wand schuppt sich“, sagte Glowacz, als er einen faustgroßen Stein über seine Schulter ins Leere warf. Den linken Fuß auf einer schmalen Leiste, den rechten gegen eine Platte gepresst, versuchte er Balance zu halten. Klopfte mögliche Griffe ab. Alle klangen hohl. Nichts um sich höher zu ziehen.
Den Atem anhaltend kletterte Glowacz einen Meter zurück. Versuchte es weiter rechts, überall Bruch. Weiter links, ein feiner Riss, in dem sich ein Klemmkeil verankern ließ. Eine Sicherung, die Glowacz ermutigte sich weiter zu tasten. Er hätte auch einen Haken in den Riss schlagen und sich daran hochziehen können. Doch das wollte er nicht. Er wollte frei klettern, an natürlichen Haltepunkten, Seil und Haken nur zur Sicherung benützend. Er wollte die Wand nicht überlisten, sondern ihr fair begegnen: mit seinem Geschick, seiner Muskelkraft, seiner Erfahrung und seinem Willen. Vier Stunden benötigte Glowacz, um den nächsten sicheren Standplatz zu erreichen. Vier Stunden für 50 Meter. Vier Stunden im „Fegefeuer“. So widerspenstig, so gefährlich, so qualvoll, dass Glowacz auf einem schmalen, abschüssigen Felsband in allem und jedem „Zeichen“ sieht.
Zum letzten Mal klettert er los. Mit einem Grummeln im Bauch, etwas hektisch zunächst, fahrig sind seine Bewegungen. Weil die Tiefe an seinen Nerven zerrt. Weil er nicht weiß, was ihn erwartet. Weil er nicht weiß, ob er sich sichern kann. Ob Griffe und Tritte da sein werden. Ob der Sandstein, der die Kühle der Nacht noch speichert, rau oder glatt ist. Ob er brüchig ist oder fest. Und weil er nicht weiß, wie es überhaupt weitergeht, jetzt, da der Acopan Tepui seinen Gipfel im Nebel versteckt. Doch mit jedem Meter, den Glowacz klettert, wird sein Klettern sicherer. Geschmeidig wie eine Katze, beweglich und ohne Kraft zu verschwenden, zieht und drückt er sich nach oben. Unter ihm ist Luft. 600, 700, 750 Meter Leere. Fünf Seillängen „Traumkletterei“.
Schließlich macht Glowacz einen letzten Zug, drückt die Ellbogen durch, setzt den rechten Fuß über eine scharfe Felskante. Richtet sich auf. Geht, setzt einen Fuß vor den anderen, ohne zu zögern, ohne nachzudenken, ohne Angst zu haben. Die Entdeckung der Waagrechten. Er sichert seine Seilpartner hinauf zum höchsten Punkt. Sie umarmen sich, klatschen sich ab, „give me five“. Nie zuvor ist ein Mensch an dieser Stelle gestanden, nie zuvor hat jemand über das Gipfelplateau des Acopan Tepui geblickt. Die „Lost World“ Arthur Conan Doyles liegt vor Glowacz, Heuber, Albert und Calderón. Die Kulisse von Steven Spielbergs „Jurassic Park“. Tiefe Schluchten, hohe Wände, Flussläufe und Wasserfälle. Das „Fegefeuer“ als Zeitmaschine, zurück in die Geschichte der Erde. Eine halbe Stunde genießen die Kletterer den Anblick, dann beginnt es zu regnen. Sturm kommt auf. „Schon gut“, sagt Glowacz, „wir gehen ja schon.“ Erst zwei Tage später, nachdem die Expedition Yunek verlassen hat, wird es aufhören zu regnen. Weil die Götter wieder allein sind auf ihrem Thron.