Brasilien
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Die aufsteigenden Rauchwolken der Feuerwerkskörper tauchten die Szenerie in ein gespenstisches Licht. Die Luft war erfüllt von ohrenbetäubenden Getöse der Trommeln und wütenden Schreien der aufgebrachten Menschenmenge. Sie sahen rot und das schon zum dritten Mal an diesem Tag. Es war der Tag des großen Finales. Die Emotionen kochten hoch bei dem wichtigsten Fußballspiel des Jahres. Bevor er den Platz verließ, verdrosch der Rotsünder noch einmal kurz den Schiedsrichter und die Polizei stürmte mit Schlagstöcken das Spielfeld. Nein, es spielte nicht die brasilianische Nationalmannschaft gegen Argentinien um die Ehre einer ganzen Nation. Es trat lediglich die südliche- gegen die nördliche Dorfhälfte von Sao Jose do Divino an, Einem kleinen Ort irgendwo in der tiefsten Provinz Brasiliens.
Das Spiel war ein Ereignis auf das die ganze Region seit Monaten hinfieberte und aus allen Richtungen strömten die Menschen in klapprigen Autos, überfüllten Bussen, Pferden und sogar auf den Rücken ihrer Kühe reisten sie an, um ihre Teams, aber vor allem sich selbst zu feiern. Letztendlich war es auch egal wer das Spiel gewann. Unmittelbar nach dem Schlusspfiff gab es kein halten mehr. Die Kofferraumhauben der gepimpten Schrottautos Modell „Jugendtraum“ flogen auf und aus Boxen die den ganzen Kofferraum ausfüllten schrillten ohrenbetäubend laut südamerikanische Rhythmen und mit dem ersten Takt flogen auch schon die Hüften der Mädchen. Und wir waren mitten im Geschehen.
Eigentlich hatten wir eine ganz andere Mission. Unser internationales Kletterteam bestehend aus Holger Heuber, dem Brasilianer Edemilson Padiha dem Argentinier Horacio Gratton, dem Photografen Klaus Fengler und mir, wir wollten uns ausschließlich auf die Erstbegehung des 800 Meter hohen Pfeilers des Piedra Riscada konzentrieren. Doch in Brasilien läuft das etwas anders. Der ganze Ort wusste sofort von unserer Ankunft. Wir waren die Attraktion, neben dem Fußballspiel natürlich. Die graue Eminenz von Sao Jose do Divino heißt Edimilson Duarte. Sohn des ehemaligen Bürgermeisters, Rockmusiker, Farmer, leidenschaftlicher Hobbypolitiker und vor allem Chefvisionär des Ortes.
In seinen kühnsten träumen sieht Edimilson bereits die großen Touristen- und Klettererströme an den Piedra Riscarda pilgern. Immerhin ist dieser Felsklotz der größte Felsmonolith Südamerikas, der Ayers Rock Brasiliens sozusagen. In weiser Voraussicht baute er nur wenige Kilometer von dem Berg entfernt ein Guesthouse, das in dieser lieblichen Landschaft wie eine Marsstation der Nasa anmutet. Geschickt baute er uns in sein politisches Programm ein und wir lernten ziemlich schnell die wichtigen Honoratioren, alles ehemalige Bürgermeister, dieses Ortes kennen. Der für unsere Belange sicher wichtigste Mann war der Polizeichef und natürlich ebenfalls ein ehemalige Bürgermeister. Nach einigen Gläsern Cachaça, dem selbstgebrannten Zuckerrohrschnaps der Unerfahrene nach wenigen Gläsern blind und willenlos macht, legte er uns väterlich den Arm um die Schulter und lallte augenzwinkernd: „Jungs, egal was ihr anstellt, ihr steht unter meiner Obhut“. Wäre da nicht unsere Mission gewesen, wir hätten diesen Freibrief sicher wesentlich stärker strapaziert.
Es waren paradiesische Zustände. Edimilson stellte uns sein Guesthouse als Basislager zur Verfügung und rückte jeden dritten Tag mit einer anderen Delegation von Gemeinderäten und ehemaliger Bürgermeister an. Von hier aus waren es 15 Minuten mit dem Auto über Schlaglöcher übersäte Feldwege an den Berg und über 90 Minuten bis in die Stadt. Eigentlich weit weg von allem Übel und Laster. Doch in Brasilien nicht weit genug.
Schon von weitem erkennbar, erhebt sich der Piedra Riscarda wie ein riesiges Fels- Bollwerk aus den Tälern. Gewaltige Wandabbrüche säumen seine Flanken und als wir ihn zum ersten Mal aus der Entfernung sahen hatten wir das Gefühl, ein neues Yosemite Valley entdeckt zu haben. Wie Riesenpilze erstrecken sich Granitdome bis zum Horizont, keiner von ihnen unter 300 Meter Wandhöhe. Doch wir waren gewarnt. Die Wände sind nicht nur völlig strukturlos, ohne ein einziges Risssystem, sondern auch übersäht mit Pflanzen. Einen Botaniker hätte dieser Anblick in wilde Verzückung versetzt, uns überkam das nackte Grausen. Nur dieser gigantische Schiffsbug, die rechte Begrenzungskante der Piedra Riscarda Südwand, hielt allen Zweifeln stand. Für sie flogen wir um die halbe Welt, sie blieb als einziges Juwel übrig. So hatten wir neben den Verführungen brasilianischer Lebensart noch mit zwei weiteren Problemen zu kämpfen. Zum einen der kompakten Wandstruktur, die nur in zwei Verschneidungs- Seillängen Klemmkeile zur Absicherung zuließ. Ansonsten konnten wir ausschließlich Bohrhaken zur Absicherung verwenden. Zum anderen die früh einsetzende Dunkelheit. Aufgrund der Nähe zum Äquator ist es in dieser Region spätestens um 18 Uhr stockdunkel.
Holger und ich überließen aus reiner Höflichkeit unseren südamerikanischen Freunden den Vortritt. Im Falle einer Erstbegehung ist das bei uns so üblich. Wer jedoch die ersten 200 Meter dieser Wand genauer betrachtet, könnte auch böse Absicht dahinter vermuten. Flache Reibungsplatten brachten die Füße- und absolute Windstille das Hirn in der Mittagshitze zum Kochen. Bevor wir Wandmitte erreichten, kehrten wir jeden Abend zurück ins Basislager. Es machte einfach keinen Sinn, nur wenige Seillängen über Grund ab sechs Uhr Abends im Biwak zu sitzen. Außerdem mussten wir die Akkus unserer Bohrmaschine laden und da waren ja auch noch unsere politischen- und die stark intensivierten gesellschaftlichen Verpflichtungen in Sao Jose do Divino. So ergab es sich, dass nach kurzer Zeit abwechselnd ein Team in der Wand und eines im Ort „arbeitete“.
Die Situation spitze sich mit zunehmender Wandhöhe dramatisch zu. Nicht nur die Kletterei wurde immer schwieriger, sondern auch die Situation in unserem Basislager. Unsere südamerikanische Seilschaft kam kaum noch zur Ruhe. Mittlerweile erhielten sie regen Besuch in unserem Guesthouse, nicht nur von den Gemeinderäten und Edimilson Duarte. Höhepunkt dieser Doppelbelastung war ein Rockkonzert, auf dem unser Gastgeber dummerweise selbst einen Gig hatte und unser Erscheinen vorausgesetzt wurde. Das Konzert fand im Nachbarort von Sao Jose de Divino statt, weitere 40 Kilometer entfernt. Gleich nach Einbruch der Dunkelheit machten wir uns auf den Weg. Kaum erreichten wir das Fest, verschwand Edi unser Fahrer die ganze Nacht wie vom Erdboden. Erst im Morgengrauen kamen wir zurück ins Basislager, zogen uns um und fuhren gleich weiter zum Klettern. Bei jeder Expedition besteht die Gefahr darin, dass durch unvorhersehbare Ereignisse wie Eis- und Steinschlag, schlechtes Wetter oder Krankheiten, eine Erstbegehung scheitert. In Brasilien sind die Gefahren wesentlich subtiler und nicht auf den ersten Blick zu erkennen.
Den Preis zahlten wir zuverlässig jeweils an der nächsten Cliffstelle. Jeden einzelnen Haken bohrten wir aus einer Cliffposition. Passend zu den anderen Aktivitäten unserer Doppelbelastung ein einziges Glücksspiel. Vorsichtig schoben wir die Cliffhänger über die vorstehenden Kiesel und bis zum Schluss fanden wir nie heraus, welcher der Belastung standhält und welcher nicht. Stundenlang saßen wir regungslos im Schlingenstand, kaum ein Absatz oder Vorsprung in der ganzen Wand erleichterte uns die Qualen. Noch nie kletterten wir an so einer verrückten Granitstruktur. Steile und überhängende Wandkletterei im besten Fels. In Wandmitte installierten wir unsere Porterledge und waren zumindest für 2 bis 3 Tage, bis die Akkus leer gebohrt waren, in Sicherheit. An den Abenden konnten wir auf der unter uns liegenden Schulter die Affen beobachten, die in beneidenswerter Geschicklichkeit über die Felsen jagten. Es kehrte hier oben Ruhe ein, äußere wie innere. Nur ganz vereinzelt blitzte in der Dämmerung in einem der Täler das Licht einer Farm auf. Ansonsten war bis zum Horizont kein Anzeichen von Zivilisation erkennbar. Es war „The place of Happiness“ und es gab auch keinen besseren Routennamen für unser Juwel.
Am Morgen lagen die Täler noch im Schatten und wurden überzogen von einer, wie durchsichtiger Seide feinen Nebelschicht. Nach vielen Expeditionen in entlegene und bedrohliche Winkel dieser Erde, ein für uns ungewohntes Gefühl der Sicherheit, Ruhe und Harmonie. Es gab weder Steinschlag und keine patagonischen Stürme drohten uns aus der Wand zu fegen und selbst Sao Jose de Divino rückte in diesen Momenten in weite Ferne. Es sind diese Augenblicke die wir Kletterer suchen. Die persönlichen Grenzbereiche, aber auch diese friedlichen Momente, die für uns den wahren Reichtum und Glück bedeuten. Augenblicke und Erfahrungen die wir nie vergessen werden. Wir reisen seit langem nicht mehr um die halbe Welt, nur um irgendwo an einer Wand uns an kleinen Griffen festzuhalten. Es sind die Gegensätze fremder Kulturen und Lebensweisen die uns faszinieren und mindestens genauso wichtig sind wie die sportliche Herausforderung. Uns ist dieses Privileg von Freiheit und Unabhängigkeit sehr bewusst, selbst nach vielen Erlebnissen und Reisen empfinden wir diese Möglichkeiten nicht als Selbstverständlichkeit.
Die letzten Tage verbrachten wir alle zusammen in der Wand und standen nach 10 nervenaufreibenden Tagen auf dem Gipfel. Wir kletterten hart und feierten schwer. Erfahrungen und Augenblicke an die wir uns sehnsüchtig erinnern werden, wenn wir wieder in einer patagonischen Eishöhle oder einem Iglu in Baffin Island sitzen. Denjenigen die neugierig geworden sind, empfehle ich eine hervorragende Finger- und Nervenkraft. Vor allem jedoch eine sehr solide Trinkfestigkeit, einen ausgezeichneten Hüftschwung und ein paar charmante portugiesische Redewendungen.