Klaus Fengler

Outdoor Photography

Reportage: Am Ende der Welt

Am Ende der Welt

Von

Stefan Glowacz

Beim Blick aus dem Fenster der kleinen Twin Otter hatte ich das Gefühl, als starre ich in eine riesige Gefriertruhe und mir wurde bewusst, dass man Kälte nicht nur fühlen sondern auch sehen kann. Seit Stunden flogen wir über gleißende Schneeflächen und wild zerklüftete Fjorde. Wir waren auf dem Weg ans Ende der Welt, in eine Gegend, die nicht für uns Menschen bestimmt ist. In den hohen Norden von Baffin Island, jenseits des nördlichen Polarkreises.

Als wir das kleine Flugzeug in Pont Inlet verließen herrschten 30 Grad minus. Der Schnee knirschte nicht mehr, er kreischte bei jedem Schritt als würden wir Glasscherben unter den Sohlen unserer dicken Bergschuhe zermalmen. Diese Kälte und natürlich die ständige Bedrohung durch Eisbären waren die dominierenden Themen während der gesamten Expedition. Sie bestimmten den Tagesablauf und die Taktik, sie waren der limitierende Faktor. Gleichzeitig war die Kälte aber auch überlebenswichtig für uns. Denn nur auf dem zugefrorenen Meer war der Weg zu unserer unentdeckten Traumwand möglich und noch wichtiger, auch der Weg zurück in die Zivilisation. Sobald das Eis aufbricht, wagen sich selbst erfahrene Jäger mit ihren Booten nicht mehr in diese Region. Zu stürmisch und gefährlich ist der Weg dorthin.

Noch kein Kletterer wagte sich vor uns in den 150 Kilometer südlich von Pont Inlet gelegenen Quernbitter Fjord. Es gab keine Erfahrungswerte und Berichte anderer Expeditionen über dieses Gebiet. Die Wand, die wir durchsteigen wollten kannten wir nicht, wir wussten nur von Hörensagen, dass sie irgendwo da draußen lag, wir mussten sie erst entdecken. Doch die Erstbegehung war nur ein Etappenziel. Nach der erfolgreichen Begehung planten wir aus eigener Kraft in die Zivilisation zurückzukehren. Nicht wieder zurück nach Pont Inlet unserem Ausgangspunkt, sondern in das 350 Kilometer südlich vom Quernbitter Fjord gelegene Clyde River. Die einzige Hilfe dabei waren Schlitten, in denen wir unsere Ausrüstung transportierten, Skier und Snowkites. Der Rückmarsch war eine Expedition für sich und ein Wettlauf mit der Zeit. Die nächsten 2 Monate verbrachten wir ausschließlich auf dem zugefrorenen Meer und der Weg zurück in die Zivilisation drohte unter unseren Skiern wegzuschmelzen.

Als wir den Fjord mit Hilfe der Jäger und ihren Schlitten nach 5 bitterkalten Tagen erreichten, hatten wir das Gefühl am Eingang des Paradieses für Kletterer zu stehen. Bizarre Big Walls und Wandformationen brechen links und rechts direkt ins Meer ab. Unsere Wand mussten wir nicht lange suchen, wir prallten beim dichten Schneetreiben mit den Skidoos förmlich dagegen. Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Übergangslos von der Horizontalen in die Vertikale ragte sie senkrecht und überhängend 700 Meter hoch, direkt aus dem Meer auf. Eine weiße Quarzader zog vom Gipfel bis in Wandmitte, gespalten von einem feinen Risssystem.

Doch genießen konnten wir die Kletterei nur an wenigen Tagen. Kälte, Schneefall und vor allem der permanente Zeitdruck setzte uns körperlich und mental enorm zu. Bis in Wandmitte verwendeten wir Fixseile, an denen wir anfangs immer wieder ins Basislager zurückkehrten. Wir durften es wegen der Eisbären nicht unbewacht lassen. Sehen ließen sie sich nie. Doch frische Spuren waren der Beweis dafür, dass sie da waren. Viele von ihnen und oft auch bedrohlich nah.

Maximal 2 Wochen hatten wir für die Wand zur Verfügung. Spätestens am 15. Mai mussten wir uns auf den Weg nach Clyde River machen. Je nach Felsqualität und Temperatur kletterten wir frei oder technisch. Lose Schuppen, groß wie Telefonzellen zwangen uns im mittleren Wandteil zu zeitraubenden Umwegen. Und die Temperatur ließ oftmals nur technische Kletterei zu. Die letzten vier Tage verbrachten wir in Porterledges in der Wand und diese entschädigten uns für sämtliche Entbehrungen. Unser Biwakplatz lag direkt über einem dichten Wolkenteppich der die Fjorde einhüllte. Vor uns lag die schier unendliche Weite des zugefrorenen Meeres. Bizarr zeichneten sich die Konturen der Eisberge gegen den Horizont ab. Über der Wolkendecke heizte sich die Wand so stark auf, dass wir die Schlüsselseillänge sogar frei klettern konnten. Eine Länge im unteren zehnten Schwierigkeitsgrad, die schwierigste die jemals in Baffin Island geklettert wurde.

Als wir nach 700 Metern und nach 12 Klettertagen aus der Wand ausstiegen, mussten wir uns erst daran gewöhnen, dass in Baffin Island nur wenige richtige Gipfel existieren, sondern nur riesige Plateaus die oft in einem leichten Spaziergang von der Rückseite erreichbar sind. Es war windstill, keine Wolke zeichnete sich am Himmel ab und es war angenehm warm. Zumindest so warm, dass wir unsere Daunenjacken offen tragen konnten. Das sind die Augenblicke für die wir immer wieder aufbrechen und die uns für alle Entbehrungen, Zweifel und Leiden entschädigen. „The Bastion“ nennen die Jäger diese Felsformation und wir tauften unsere Route „Take the long way home“.

Und dieser lange, mühsame Weg zurück nach Hause lag noch vor uns. Er sollte zur Entdeckung der Langsamkeit werden. Bei jeder kleinen Brise versuchten wir zwar unsere Kites einzusetzen, doch nur an wenigen Tagen waren sie eine wirkliche Hilfe. Stundenlang zogen wir unsere Schlitten wie in Trance durch bizarre Eisformationen und jeder versuchte sein eigenes mentales Betrugssystem zu entwickeln, um die quälende Langsamkeit und Ausgesetztheit erträglicher zu machen.

Ich kann mich nicht erinnern jemals bei einer Expedition so erleichtert gewesen zu sein, als nach über 14 Tagen Rückmarsch die ersten Hütten von Clyde River auftauchten. Fast 2 Monate bewegten wir uns in einer fremden und menschenfeindlichen Welt. Wie Schiffsbrüchige tauchten wir aus dem Nichts auf. Aus einer Welt die sich ständig veränderte und die wenige Wochen später verschwunden war.