Klaus Fengler

Outdoor Photography

Reportage: Über alle Berge - Racebiken im Piemont

Über alle Berge - Racebiken im Piemont

Von

Verena Stitzinger

Wo 2006 die Wintersportathleten zu Olympischen Spielen antraten, finden Rennradfahrer ein wahres Paradies an einsamen Straßen und beeindruckender Landschaft – das allerdings erkämpft sein will!

„Jetzt wird es schön“, sagt Mauro, lacht und tritt ein paar Mal wuchtig in die Pedale. Schon ist er entflohen und lässt mich allein mit einer 22-Prozent-Steigung! Und meinen Gedanken. „Dabei ist der alles andere als ein Bergfloh“, beschwere ich mich keuchend. Doch was soll´s? Es hört ja doch niemand zu. Also puste ich und arbeite an meiner Psyche. Tatsache – es gibt vielleicht gar keinen besseren Ort als dieses Tal im Piemont, um eine positive Einstellung gegenüber Steigungen und Pässen, insgesamt Bergauffahren jedweder Art, welches ja systembedingt mit einer gewissen Quälerei verbunden ist, zu gewinnen.

Denn hier wird der Radfahrer mal wirklich belohnt: Wird doch oft von Romantik und Idylle gesprochen, sobald es um Berge und Täler geht – hier im Comba Carbonieri treffen diese Begriffe direkt ins Schwarze. Ein gerademal Fiat Panda-breites Asphaltsträsschen führt nach oben, zur Seite ein glasklarer Bergbach, in dem riesige Felsbrocken herumliegen und vereinzelt uralte Häuser aus rohen Steinen. Oben wartet die Hütte Rifugio Barbara, umringt von senkrechten Felswänden, wie sie Kletterer lieben. Unten im winzigen Weiler Perlà haben wir zwei Schafbauern in ihrer dreirädrigen Apé überholt, um sie nach dem Weg zu fragen. Das Paar ließ es sich daraufhin nicht nehmen, uns ihre 22 Mutterschafe zu zeigen. „Das Lamm wurde erst gestern geboren“, erzählte der Senior im Arbeitskittel stolz und steckte einem Schaf eine Esskastanie zu.

Kein Wunder, dass Mauro und Daniele darauf bestanden haben, mich und Markus hierher zu führen. Stolz sind die beiden auf ihre Heimat im Hinterland von Turin. Die „Olympischen Täler“ wird dies seit 2006 von Touristikern genannt – schließlich finden sich hier die Sportstätten der Olympischen Spiele von Turin: Sestriere, Pragelato, San Sicario und Bardonecchia. Wer Turin nur als Industriestadt im Kopf hat, wird hier überrascht sein: Die Berge sind fast 4000 Meter hoch, die Täler idyllisch und die Pässe einsam – und zahlreich. Bergliebende Rennradfahrer können sich hier wahrlich austoben.

Und wer hier lebt und Rad fährt, wird wahrscheinlich zwangsläufig zum Bergliebhaber – auch wenn er über 1,90 Meter groß ist und nicht gerade der Allerschmälste, so wie Mauro Canale. Der 36-Jährige ist Koch im Krankenhaus von Pinerolo – und leidenschaftlicher Radfahrer. Im vergangenen Jahr hat er auf dem Mountainbike die Teamwertung des legendären Mehrtagesrennens Ironbike gewonnen. In seiner Freizeit hat er auch schon einen MTB-Führer für das Val Péllice erstellt – und er organsisiert zusammen mit dem Hüttenwirt das „Cronoscalata del Barbara“ bei dem bis zu 70 Rennradfahrer in einem Bergsprint die rund 1000 Höhenmeter zur Rifugio Barbara unter die schmalen Reifen nehmen. „Der Rekord liegt bei 40 Minuten“, erzählt Mauro, dessen beste Zeit nicht weit entfernt davon liegt. Sein Kumpel Daniele Avico, der Bautechniker ist ein wenig langsamer – aber immer noch viel schneller als Markus und ich an diesem Vormittag. Es macht ihnen aber nichts aus, auf uns zu warten, schließlich ist es ein Ausflug und kein Rennen.

Es gibt durchaus Tage, an welchen die beiden Freunde nicht so entspannt sind. „Wenn wir die große Pässerunde fahren, müssen wir uns schon beeilen, sonst wird es dunkel“, sagt Daniele und lächelt. Mit seinem kahlrasierten Kopf und der edlen Brille sieht er sowas von italienisch aus, dass es auch ein Filmszene sein könnte. Ist es aber nicht. Er ist wirklich die fast 220 Kilometer und 4550 Höhenmeter an einem einzigen Tag gefahren. Glaubhaft versichert er, dass die Landschaft auf dieser Runde beflügelt. Stimmt. Schon am ersten Pass am Col du Mont Cenis sind die Ausblicke überwältigend: Türkisblau liegt der Stausee unterhalb der Straße und sieht beinahe wie ein norwegischer Fjord aus. Dahinter bilden massige Gletscherberge den Horizont. Kurz zuvor sind wir an den Tunnels der historischen Eisenbahn vorbeigefahren. Die Bahnlinie war von 1868 bis 1871 in Betrieb. Kurioserweise diente sie wohl insbesondere der Beförderung englischer Post nach Indien. Um auch die steilen Passagen überwinden zu können, war eine besondere Technik nötig: Bei der dampfgetriebenen Adhäsionsbahn wurden mit einer starken Feder zwei zusätzliche Räder an eine Mittelschiene gedrückt. Fünf Mal wurde der Pass auch bei der Tour de France bewältigt, zuletzt 1999.

Ein alter Grenzstein und die Tafeln erinnern daran, dass die Grenze zwischen Italien und Frankreich schon mehrfach verschoben wurde. Heute jedoch sind die Bunker nur noch Kulisse für friedliche Reisende – für die geht es auf der französischen Seite hinab in den Skiort Lanslebourg und das Tal hinaus nach Modane und St. Michel de Maurienne. Für uns steht fest: Es spricht rein gar nichts dagegen, diese Runde auf mehrere Tage aufzuteilen. Daniele und Mauro aber radeln weiter… hinauf! Denn nun folgen die berühmt-berüchtigten Tour de France-Pässe: Col du Télégraphe, Galibier und Lautaret – und zwar in dieser Reihenfolge. 12 Kilometer sind es hinauf zum Télégraphe, 34 zum Galibier – und gut 2000 Höhenmeter zu klettern. „Wahnsinn – allein dafür lohnt sich die Reise ins Piemont“, flüstere ich. Denn die wilde Bergkulisse flößt uns mächtig Respekt ein. Und schon folgt die nächste Spezialität: Zum Col du Lautaret geht es ausschließlich bergab! Der Übergang liegt einfach um einiges tiefer als der Galibier und quasi in der Abfahrt nach Briancon. „Aber vergiss trotzdem nicht, Dich genau umzuschauen“, rät Daniele – und hat Recht: Zur Seite steht das mächtige Bergmassiv der fast 4000 Meter hohen Meije mit spektakulär steilen Hängegletschern. „Wow“, haucht denn auch Markus in die kühle Bergluft. Und dann geht’s hinab das weite Tal mit beinahe kanadischen Ausmaßen. Natürlich ist dieser Zwei-Länder Giro der besonderen Art noch nicht zu Ende. Es wartet noch Mauros Geheimtipp: „Von Briancon fahren wir nicht über den Montgenevre zurück ins Val di Susa, sondern über den unbekannten Col della Scala.“

Gute Entscheidung: So ein schmales Pass-Strässchen haben wir vorher überhaupt noch nicht gesehen! Doch ganz neu asphaltiert ist es trotzdem und führt in wunderschönen Serpentinen hinauf zum Übergang ins Val Clarée. Dann folgt der Endspurt von Bardonecchia nach Susa, doch natürlich nicht ganz flach. Vor dem Fort von Exilles wartet noch eine miese, kleine Steigung – doch auch die kann die Freunde nicht mehr aufhalten. Schließlich wartet ein piemontesisches Abendmahl auf sie – denn im Hinterland von Turin lassen sich kulinarische Spezialitäten ebenso gut sammeln wie Höhenmeter!